Das neue Leben der Sabine Peitsch
Nach einem Herzinfarkt liegt Sabine Peitsch lang im Koma. Die Ärzt*innen sind skeptisch, ob für sie noch ein lebenswertes Leben möglich ist. Doch als ihr Partner Mike sie am 37. Tag besucht, wird alles anders. Sabine ist plötzlich wieder da, auch wenn nicht mehr so wie früher.
Manche Lebensgeschichten sind wie aus einem Film. Zuerst die plötzliche Katastrophe, dann das Bangen, die Wendung und schliesslich das erwünschte Happy End. So ähnlich ist es auch der 58-jährigen Sabine Peitsch und ihrem Lebenspartner Mike Berchtold ergangen. Und eben doch nicht ganz. «Ich bin wieder da, aber nicht mehr die Sabine von früher», sagt sie mit trockenem Humor.
An den Tag, der ihr Leben verändert hat, erinnert sich Sabine Peitsch nicht mehr. Ihr Gedächtnis hat eine grosse Lücke, über sechs Monate ihres Lebens fehlen. Mike Berchtold übernimmt und erzählt. Am 29. April 2020, mitten im ersten Lockdown, bekam er einen Anruf von seiner Partnerin. Sie bat ihn, sie von der Arbeit abzuholen, sie habe starke Rückenschmerzen. Sabine leitete damals die Wäscherei der Stiftung Schloss Biberstein bei Aarau, ein idyllisches Zuhause für Menschen mit einer Beeinträchtigung. Mike fuhr sofort dorthin und sah sie vor Schmerz gekrümmt vor dem Bürotisch. Sie kniete sich auf den Boden und er massierte ihr den Rücken. Dann kippte sie um. «Keine Atmung, kein Puls, tot», sagt er und stockt dabei. Ihr Herz stand still.
Über einen Monat im Koma
Es folgten bange Minuten. Er zog sie aus dem engen Büro und begann sofort mit der Herzdruckmassage. Eine Viertelstunde später tauchte die Ambulanz auf. Die Rettungssanitäter gaben insgesamt sechsmal einen Schock ab. Lange tat sich nichts. Als nach 25 Minuten die Frage aufkam, ob sie eine Patientenverfügung habe, dachte Mike, nun wird es wirklich eng. Fünf Minuten später dann ein schwacher Puls, dennoch war seine Verzweiflung gross: «Nach einer so langen Zeit Wiederbelebung rechnete ich mit Gehirnschäden.»
Im Kantonsspital Aarau erhielt Sabine mehrere Stents und kam auf die Intensivstation. Dort blieb sie vorläufig auch. Die Besucherzeiten waren aufgrund von Covid eingeschränkt. Am vierten Tag sah Mike sie zum zweiten Mal, sie lag noch immer im Koma. Der Oberarzt war skeptisch, aufgrund der Gehirnströme glaube er nicht, dass Sabine lebensfähig sein werde. Ein paar Tage später und nach weiteren Untersuchungen dann die gute Nachricht. «Wir sehen bei Frau Peitsch noch Anzeichen für ein lebenswertes Leben», sagte ein anderer Arzt aus dem Team.
Wie man einen Elefanten nennt
Sabine machte weiterhin keinen Wank. Nach über einem Monat im Koma wurde sie nach Bellikon verlegt. Mike Berchtold kämpft mit den Tränen, wenn er von seinem ersten Besuch in der Reha-Klinik erzählt. 36 Tage lang hatte seine Partnerin reglos auf der Intensivstation in Aarau gelegen und keinen Ton von sich gegeben, nicht mal auf ein Kneifen reagiert. Und dann das: Die automatische Türe zu ihrem Zimmer öffnete sich, Sabine sass auf einem Rollstuhl, blickte auf und begrüsste ihn mit einem «Hoi!». Er fiel vor ihr auf die Knie und umarmte sie. «Es war fast ein Wunder, sie war wieder da», sagt Mike Berchtold. Sabine Peitsch hatte riesiges Glück, denn sechs von zehn Patient*innen mit einem Herz-Kreislauf-Stillstand überleben die Reanimation vor Ort noch immer nicht.
«Vor dem Infarkt arbeitete ich mit Menschen mit einer Beeinträchtigung. Jetzt gehöre ich selbst dazu.»
Ende gut, alles gut? Im Film vielleicht. Hier aber beginnt die Story, die in Filmen meist nicht erzählt wird. Weil vieles mühsam ist, verbunden mit kleinen Fortschritten und grossen Enttäuschungen. Ihre Gehirnleistung war beeinträchtigt und ihr Wesen hatte sich verändert. In den fünf Monaten in der Reha musste sie die verloren gegangenen Fähigkeiten wieder erlernen. An den ersten neuropsychologischen Test erinnert sie sich: Sie wurde aufgefordert, Tiere auf Bildern zu benennen. Vor ihr lag das Foto eines Elefanten, doch das Wort «Elefant» kam einfach nicht aus ihr heraus. Nach dem Test war sie völlig aufgelöst, enttäuscht von sich. Dass sie selbst einfache Dinge nicht mehr konnte, beschämt sie noch heute manchmal.
Zettel am Badezimmerspiegel
Nach der Reha wollte Sabine Peitsch wieder an ihren alten Arbeitsplatz zurück. Am dritten Probetag kam der Entscheid, dass sie nicht mehr in die Wäscherei zurückkehren könne. «Ich arbeitete mit Menschen mit einer Beeinträchtigung», sagt sie bedrückt, «jetzt gehöre ich selbst dazu.» Mit der Arbeit verlor sie auch ihr soziales Umfeld. Kolleginnen und Kollegen meldeten sich immer seltener. Zu Hause musste sie sich einen Tagesplan erstellen und die Abläufe Schritt für Schritt notieren, sonst verhedderte sie sich. «Gesicht waschen, Deo unter die Arme streichen, Zähne putzen», stand auf einem Zettel, der am Badezimmerspiegel hing.
Sabine Peitsch und Mike Berchtold blättern gern in Fotoalben. Die gemeinsamen Erinnerungen bereiten beiden Freude.
In den drei Jahren nach dem Herzinfarkt hat sich einiges verändert. Vieles ist unterdessen besser geworden, doch die alte Sabine kommt wohl nie mehr ganz zurück. Sabine Peitsch gibt nicht auf. Sie kann zwar nicht mehr ins Erwerbsleben zurück, aber sie will ihr Leben sinnvoll nutzen. Begeistert stürzt sie sich in ihre Handarbeitsprojekte, mit Freiwilligenarbeit möchte sie anderen nützen. Sie und ihr Partner Mike bewegen sich regelmässig, um das Herz wieder in Schwung zu bringen. Also doch noch ein Happy End? Vielleicht könnte man es so ausdrücken: Sie sind auf dem Weg dorthin.
Was ist ein Herz-Kreislauf-Stillstand?
Ein Herz-Kreislauf-Stillstand kann sich ohne Vorzeichen ereignen. Meist geht ihm jedoch wie bei Sabine Peitsch ein Herzinfarkt voraus. Weil die Herzkammern plötzlich viel zu schnell schlagen und nur noch flimmern, spricht man auch von Kammerflimmern. Das Herz ist nicht mehr fähig, Blut in den Körper zu pumpen. Nur eine sofortige Erste Hilfe, also eine Herzmassage, Beatmung und Defibrillation, kann beim Herz-Kreislauf-Stillstand Leben retten.