Wie mit der psychischen Belastung umgehen?
Gleich nach einem Herzinfarkt überwiegen die Sorgen und Ängste. Später kann daraus jedoch etwas Neues entstehen. Marcel Zwyssig arbeitet als Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe in der Kardiologie und unterstützt Herzpatientinnen und ‑patienten auf dem Weg zurück in die Normalität.
Eine Person hat unerwartet einen schweren Herzinfarkt erlitten. Sie ist überfordert und kommt zu Ihnen in die Beratung. Was passiert dann?
Marcel Zwyssig: Die Person ist in diesem Moment meist in einer Ausnahmesituation. Früher war in ihrem Leben alles klar. Jetzt hat sie das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben. Sie leidet unter Ängsten und weiss nicht, wie es weitergehen soll. Von dieser Ausgangslage gehe ich aus. In einem ersten Schritt ist mir wichtig, dass ich das Problem verstehe und sich mein Gegenüber verstanden fühlt.
Wie gehen Sie vor?
Menschen mit einem schweren Herzinfarkt hatten oft starke Schmerzen oder Atemnot. Sie sind mit Blaulicht ins Spital gekommen. Ein solches Erlebnis kann traumatisierend sein. Ich will herausfinden, ob dies schon verarbeitet ist. Bei manchen Betroffenen löst das Erlebnis noch immer bedrohliche Bilder aus, was zu einer dauerhaften inneren Anspannung führt. Andere wiederum sind einen Schritt weiter und haben alles schon gut verarbeitet.
Weshalb ist ein Herzinfarkt traumatisierend?
Für die meisten Herzpatienten ist der Infarkt eine Schockdiagnose. Zum Trauma führen die massive Angst und der Kontrollverlust. Während des Ereignisses fühlt man sich machtlos. Später im Spital liegt man da und muss zusehen, wie das Behandlungsteam den Eingriff durchführt. Einige denken, das war es nun mit meinem Leben. Sie erleben Todesangst.
Was ist der Anlass, zu Ihnen zu kommen?
Oft sind es Schwierigkeiten im Alltag, die man vor dem Infarkt nicht hatte. So sagen mir beispielsweise Patienten, dass es ihnen körperlich wieder gut gehe, aber dass sie nicht mehr so belastbar, viel dünnhäutiger seien als früher. Dies führt zu emotionalen Entgleisungen, die sie von sich bisher nicht kannten und die sie verunsichern. Depressive Symptome und Ängste sind weitere Gründe. Wenn jemand körperlich stark beeinträchtigt bleibt, kommen zusätzlich zu den gesundheitlichen Ängsten noch existenzielle dazu. Werde ich in Zukunft noch arbeiten können? Brauche ich eine Umschulung? Kann ich meine Miete bezahlen?
Wie komme ich zu einem Kardiopsychologen?
Zu mir kommen die meisten Patientinnen und Patienten durch das Rehabilitationsprogramm des Spitals. Es gibt aber auch die Möglichkeit, sich über den Hausarzt oder Kardiologen einem Kardiopsychologen zuweisen zu lassen.
Wann sollten Betroffene von sich aus Hilfe aufsuchen?
Wenn sie sich zurückziehen und soziale Kontakte nicht mehr aufrechterhalten, wenn sie an nichts mehr Freude haben und niedergeschlagen sind, also bei typischen depressiven Symptomen. Dauert dies nur ein paar Tage, ist das kein Problem. Anders steht es, wenn dies über Wochen anhält und nicht besser wird. Weil solche Personen häufig nicht von sich aus aktiv werden, hilft es, wenn sie jemand aus dem Umfeld zu einer psychologischen Abklärung motiviert.
Gibt es neben der Niedergeschlagenheit weitere Anzeichen, die man abklären sollte?
Schlafstörungen sind ein wichtiger Hinweis. Sorgen können dazu führen, dass ich nachts wachliege, weil ich ständig Gedanken wälze. Wenn jemand früher gut geschlafen hat und es nun nicht mehr tut, kann er oder sie in einem klärenden Gespräch schauen, was dahintersteckt. Übertriebene Ängste wiederum führen dazu, dass sich jemand schont und im Alltag stark einschränkt. Ich gehe zum Beispiel nicht auf eine Wanderung, weil ich Angst habe, mir könnte dann etwas passieren. Eine übertriebene Schonhaltung wirkt sich negativ auf die körperliche Fitness aus.
Einigen Patienten wiederum fällt das Umsetzen der empfohlenen Lebensstilveränderungen bezüglich des Alkohols, Rauchens oder der Gewichtsreduktion schwer. Sie könnten von einer Unterstützung profitieren. Ein letzter wichtiger Punkt ist der Stress. Wenn Sie zum Beispiel merken, Sie können nach der Arbeit nicht mehr herunterfahren oder wenn Sie in Ihrem Leben andere dauerhafte Belastungen haben, dann ist eine Abklärung empfehlenswert.
Wie gehen Sie bei übertriebenen Ängsten vor?
Nach einem Herzinfarkt nimmt man körperliche Signale stärker wahr als früher. Man macht sich schneller Gedanken, wenn etwas zwickt oder sticht in der Brust. Bei gewissen Menschen löst dies Panikattacken aus, sie denken an einen weiteren Infarkt. Solche Patientinnen und Patienten lernen mit mir, wie eine Panikattacke entsteht, dass diese Empfindung sich nur schrecklich anfühlt, aber meistens völlig ungefährlich ist. In einem zweiten Schritt üben wir, wie man aus einer solchen Attacke herausfindet. Ich vermittle Entspannungstechniken wie beispielsweise das kontrollierte Atmen. Auch generelle Ängste und unangenehme Gedanken versuchen wir einzuordnen und anders zu bewerten.
«Man muss die Erkrankung einerseits ernst nehmen. Andererseits darf man sich nicht zu stark von Ängsten und negativen Gefühlen einschränken lassen», rät Marcel Zwyssig.
Was passiert, wenn mich der Infarkt völlig heruntergezogen hat?
Im Fall von Depressionen versuche ich, die Ressourcen des Patienten zu aktivieren. Sehr Antriebslose versuche ich zu mehr Aktivität zu bringen, auch wenn es nur fünf Minuten Bewegung im Freien sind. Das ist schon besser als gar nichts. Vielleicht trifft er oder sie noch jemanden und hat wieder das eine oder andere schöne Erlebnis. Bei einem mittelschweren oder schweren Verlauf ist die Kombination von Psychotherapie und antidepressiv wirkenden Medikamenten sinnvoll.
Dauert eine solche Behandlung lange?
Das ist sehr unterschiedlich und hängt von den Belastungen ab. Nach einem Herzinfarkt kommen einige für drei oder vier Sitzungen, viele für zehn bis fünfzehn Sitzungen zu mir. Nur wenige Patientinnen oder Patienten sind dreissig oder vierzig Sitzungen über Jahre verteilt in einer Behandlung.
Was kann ich mir von einer Therapie erhoffen?
Ziel ist es, die Erkrankung gut in das Leben zu integrieren. Ich soll sagen können, ich hatte zwar meinen Herzinfarkt und den wünschte ich mir nicht, aber jetzt bin ich auf gutem Wege und das Leben macht mir wieder Freude. Wir Psychologen unterstützen die Menschen auf dem Weg dorthin. Wir schauen, was Betroffene brauchen, um wieder zurück in die Normalität zu finden.
Wie gelingt der Weg in die Normalität?
Man muss einen Mittelweg finden. Einerseits muss man die Erkrankung ernst nehmen, die erforderlichen Anpassungen im Leben machen. Andererseits darf man sich nicht zu stark von Ängsten und negativen Gefühlen einschränken lassen. Ich finde es immer sehr eindrücklich, wie unterschiedlich Menschen mit Belastungen umgehen. Vor jedem Erstgespräch schaue ich mir das medizinische Dossier an.
Manche Patientinnen oder Patienten haben eine lange Krankheitsgeschichte mit weiteren Erkrankungen und ich stelle mich auf einen stark belasteten Menschen ein. Und dann kommt mir jemand entgegen, der meinen Vorstellungen gar nicht entspricht. Der Schweregrad der körperlichen Krankheit steht oft nicht im direkten Zusammenhang mit dem Krankheitsgefühl. Gewisse Menschen haben eine innere Haltung, mit der sie das Beste aus ihrem Leben machen. Die sagen sich, verglichen mit anderen geht es mir noch gut oder ich kann nicht klagen, ich hatte so viele schöne Jahre
Wie kommt es zu einer solchen Haltung?
Wichtig ist, wie ich meine Möglichkeiten und Ressourcen einschätze. Also, ob ich die Erkrankung als grösstmögliche Katastrophe oder als eine Herausforderung beurteile. Hier kann eine Psychotherapie bewirken, dass sich die persönliche Beurteilung verändert. Ein weiterer Teil ist sicher genetisch bedingt. Manche Menschen reagieren rasch negativ, andere bleiben gelassener. Die Erziehung und Erfahrungen in den Kinder und Jugendjahren spielen auch eine Rolle. Wenn Sie ein gesundes Vertrauen in Ihre Mitmenschen und die eigenen Fähigkeiten haben, trauen Sie sich viel mehr zu. Dann meistern Sie auch ein schwieriges Ereignis wie einen Herzinfarkt besser als andere.
Kann der Herzinfarkt auch helfen, sein Leben neu anzuschauen?
Das ist ein wichtiger Punkt. In den ersten Tagen nach einem Herzinfarkt steht der Schock im Vordergrund, die Angst und Verunsicherung. Später kommt dann oft eine gewisse Dankbarkeit auf. Patienten sagen mir manchmal im Nachhinein, der Herzinfarkt sei gar nicht so schlecht gewesen und es gehe ihnen heute besser als vorher. Für viele war er ein Warnschuss, dass sie dringend etwas ändern müssen. Weil sie sich beispielsweise nur um die Karriere gekümmert und die Familie vernachlässigt hatten. Andere fühlen sich nach dem Herzinfarkt körperlich besser, weil sie durch das Reha Programm wieder Freude an der Bewegung bekommen haben und dadurch wieder einen viel aktiveren Lebensstil pflegen. Der Herzinfarkt eröffnet auch neue Perspektiven.
Hören Sie den Podcast zum Thema
Einen Herzinfarkt überlebt zu haben, kann Ängste auslösen. Er ist immer noch Todesursache Nummer 1 in der Schweiz. Wie gehen Herzinfarktpatient*innen und ihre Angehörigen damit um, wie erlangen sie das Vertrauen in den eigenen Körper zurück? Wir sprechen mit dem Kardiopsychologen Marcel Zwyssig und lernen in dieser Folge Peter Giger und seine Ehefrau Denise aus Lyss kennen, die erste Hilfe geleistet hatte, als ihr Mann vor fünf Jahren zusammenbrach.