Wie mit der psychischen Belastung umgehen?

Gleich nach einem Herzinfarkt überwiegen die Sorgen und Ängste. Später kann daraus jedoch etwas Neues entstehen. Marcel Zwyssig arbeitet als Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe in der Kardiologie und unterstützt Herzpatientinnen und ‑patienten auf dem Weg zurück in die Normalität.

Aktualisiert am 30. Januar 2024
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Eine Person hat unerwartet einen schweren Herz­infarkt erlitten. Sie ist überfordert und kommt zu Ihnen in die Beratung. Was passiert dann?
Marcel Zwyssig:
Die Person ist in die­sem Moment meist in einer Ausnah­mesituation. Früher war in ihrem Le­ben alles klar. Jetzt hat sie das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben. Sie leidet unter Ängsten und weiss nicht, wie es weitergehen soll. Von dieser Ausgangslage gehe ich aus. In einem ersten Schritt ist mir wichtig, dass ich das Problem ver­stehe und sich mein Gegenüber verstanden fühlt.

Wie gehen Sie vor?
Menschen mit einem schweren Herzinfarkt hatten oft starke Schmerzen oder Atemnot. Sie sind mit Blaulicht ins Spital gekommen. Ein solches Erlebnis kann trauma­tisierend sein. Ich will herausfinden, ob dies schon ver­arbeitet ist. Bei manchen Betroffenen löst das Erlebnis noch immer bedrohliche Bilder aus, was zu einer dauer­haften inneren Anspannung führt. Andere wiederum sind einen Schritt weiter und haben alles schon gut ver­arbeitet.

Weshalb ist ein Herzinfarkt traumatisierend?
Für die meisten Herzpatienten ist der Infarkt eine Schockdiagnose. Zum Trauma führen die massive Angst und der Kontrollverlust. Während des Ereignisses fühlt man sich machtlos. Später im Spital liegt man da und muss zusehen, wie das Behandlungsteam den Eingriff durchführt. Einige denken, das war es nun mit meinem Leben. Sie erleben Todesangst.

Was ist der Anlass, zu Ihnen zu kommen?
Oft sind es Schwierigkeiten im Alltag, die man vor dem Infarkt nicht hatte. So sagen mir beispielsweise Patien­ten, dass es ihnen körperlich wieder gut gehe, aber dass sie nicht mehr so belastbar, viel dünnhäutiger seien als früher. Dies führt zu emotionalen Entgleisungen, die sie von sich bisher nicht kannten und die sie verunsichern. Depressive Symptome und Ängste sind weitere Gründe. Wenn jemand körperlich stark beeinträchtigt bleibt, kommen zusätzlich zu den gesundheitlichen Ängsten noch existenzielle dazu. Werde ich in Zukunft noch arbeiten können? Brauche ich eine Umschulung? Kann ich meine Miete bezahlen?

Wie komme ich zu einem Kardiopsychologen?
Zu mir kommen die meisten Patientinnen und Patien­ten durch das Rehabilitationsprogramm des Spitals. Es gibt aber auch die Möglichkeit, sich über den Hausarzt oder Kardiologen einem Kardiopsychologen zuweisen zu lassen.

Wann sollten Betroffene von sich aus Hilfe aufsuchen?
Wenn sie sich zurückziehen und soziale Kontakte nicht mehr aufrechterhalten, wenn sie an nichts mehr Freude haben und niedergeschlagen sind, also bei typischen depressiven Symptomen. Dauert dies nur ein paar Tage, ist das kein Problem. Anders steht es, wenn dies über Wochen anhält und nicht besser wird. Weil solche Personen häufig nicht von sich aus aktiv werden, hilft es, wenn sie jemand aus dem Umfeld zu einer psycho­logischen Abklärung motiviert.

Gibt es neben der Niedergeschlagenheit weitere Anzeichen, die man abklären sollte?
Schlafstörungen sind ein wichtiger Hinweis. Sorgen können dazu führen, dass ich nachts wachliege, weil ich ständig Gedanken wälze. Wenn jemand früher gut geschlafen hat und es nun nicht mehr tut, kann er oder sie in einem klärenden Gespräch schauen, was dahinter­steckt. Übertriebene Ängste wiederum führen dazu, dass sich jemand schont und im Alltag stark einschränkt. Ich gehe zum Beispiel nicht auf eine Wanderung, weil ich Angst habe, mir könnte dann etwas passieren. Eine übertriebene Schonhaltung wirkt sich negativ auf die körperliche Fitness aus.

Einigen Patienten wiederum fällt das Umsetzen der empfohlenen Lebensstilverände­rungen bezüglich des Alkohols, Rauchens oder der Gewichtsreduktion schwer. Sie könnten von einer Unterstützung profitieren. Ein letzter wichtiger Punkt ist der Stress. Wenn Sie zum Beispiel merken, Sie kön­nen nach der Arbeit nicht mehr herunterfahren oder wenn Sie in Ihrem Leben andere dauerhafte Belastun­gen haben, dann ist eine Abklärung empfehlenswert.

Wie gehen Sie bei übertriebenen Ängsten vor?
Nach einem Herzinfarkt nimmt man körperliche Signale stärker wahr als früher. Man macht sich schneller Gedanken, wenn etwas zwickt oder sticht in der Brust. Bei gewissen Menschen löst dies Panikattacken aus, sie denken an einen weiteren Infarkt. Solche Patientinnen und Patienten lernen mit mir, wie eine Panikattacke entsteht, dass diese Empfindung sich nur schrecklich anfühlt, aber meistens völlig ungefährlich ist. In einem zweiten Schritt üben wir, wie man aus einer solchen Attacke herausfindet. Ich vermittle Entspannungs­techniken wie beispielsweise das kontrollierte Atmen. Auch generelle Ängste und unangenehme Gedanken versuchen wir einzuordnen und anders zu bewerten.

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«Man muss die Erkrankung einerseits ernst nehmen. Andererseits darf man sich nicht zu stark von Ängsten und negativen Gefühlen einschränken lassen», rät Marcel Zwyssig.

Was passiert, wenn mich der Infarkt völlig herunter­gezogen hat?
Im Fall von Depressionen versuche ich, die Ressourcen des Patienten zu aktivieren. Sehr Antriebslose versuche ich zu mehr Aktivität zu bringen, auch wenn es nur fünf Minuten Bewegung im Freien sind. Das ist schon besser als gar nichts. Vielleicht trifft er oder sie noch jemanden und hat wieder das eine oder andere schöne Erlebnis. Bei einem mittelschweren oder schweren Verlauf ist die Kombination von Psychotherapie und antidepressiv wirkenden Medikamenten sinnvoll.

Dauert eine solche Behandlung lange?
Das ist sehr unterschiedlich und hängt von den Belas­tungen ab. Nach einem Herzinfarkt kommen einige für drei oder vier Sitzungen, viele für zehn bis fünfzehn Sitzungen zu mir. Nur wenige Patientinnen oder Patienten sind dreissig oder vierzig Sitzungen über Jahre verteilt in einer Behandlung.

Was kann ich mir von einer Therapie erhoffen?
Ziel ist es, die Erkrankung gut in das Leben zu integrie­ren. Ich soll sagen können, ich hatte zwar meinen Herz­infarkt und den wünschte ich mir nicht, aber jetzt bin ich auf gutem Wege und das Leben macht mir wieder Freude. Wir Psychologen unterstützen die Menschen auf dem Weg dorthin. Wir schauen, was Betroffene brauchen, um wieder zurück in die Normalität zu finden.

Wie gelingt der Weg in die Normalität?
Man muss einen Mittelweg finden. Einerseits muss man die Erkrankung ernst nehmen, die erforderlichen Anpas­sungen im Leben machen. Andererseits darf man sich nicht zu stark von Ängsten und negativen Gefühlen ein­schränken lassen. Ich finde es immer sehr eindrücklich, wie unterschiedlich Menschen mit Belastungen umge­hen. Vor jedem Erstgespräch schaue ich mir das medizi­nische Dossier an.

Manche Patientinnen oder Patienten haben eine lange Krankheitsgeschichte mit weiteren Erkrankungen und ich stelle mich auf einen stark belas­teten Menschen ein. Und dann kommt mir jemand ent­gegen, der meinen Vorstellungen gar nicht entspricht. Der Schweregrad der körperlichen Krankheit steht oft nicht im direkten Zusammenhang mit dem Krankheits­gefühl. Gewisse Menschen haben eine innere Haltung, mit der sie das Beste aus ihrem Leben machen. Die sagen sich, verglichen mit anderen geht es mir noch gut oder ich kann nicht klagen, ich hatte so viele schöne Jahre

Wie kommt es zu einer solchen Haltung?
Wichtig ist, wie ich meine Möglichkeiten und Ressour­cen einschätze. Also, ob ich die Erkrankung als grösst­mögliche Katastrophe oder als eine Herausforderung beurteile. Hier kann eine Psychotherapie bewirken, dass sich die persönliche Beurteilung verändert. Ein weiterer Teil ist sicher genetisch bedingt. Manche Menschen reagieren rasch negativ, andere bleiben gelassener. Die Erziehung und Erfahrungen in den Kinder­ und Jugend­jahren spielen auch eine Rolle. Wenn Sie ein gesundes Vertrauen in Ihre Mitmenschen und die eigenen Fähig­keiten haben, trauen Sie sich viel mehr zu. Dann meis­tern Sie auch ein schwieriges Ereignis wie einen Herz­infarkt besser als andere.

Kann der Herzinfarkt auch helfen, sein Leben neu anzuschauen?
Das ist ein wichtiger Punkt. In den ersten Tagen nach einem Herzinfarkt steht der Schock im Vordergrund, die Angst und Verunsicherung. Später kommt dann oft eine gewisse Dankbarkeit auf. Patienten sagen mir manch­mal im Nachhinein, der Herzinfarkt sei gar nicht so schlecht gewesen und es gehe ihnen heute besser als vorher. Für viele war er ein Warnschuss, dass sie drin­gend etwas ändern müssen. Weil sie sich beispielsweise nur um die Karriere gekümmert und die Familie ver­nachlässigt hatten. Andere fühlen sich nach dem Herz­infarkt körperlich besser, weil sie durch das Reha­ Programm wieder Freude an der Bewegung bekommen haben und dadurch wieder einen viel aktiveren Lebens­stil pflegen. Der Herzinfarkt eröffnet auch neue Perspektiven.

Hören Sie den Podcast zum Thema

Einen Herzinfarkt überlebt zu haben, kann Ängste auslösen. Er ist immer noch Todesursache Nummer 1 in der Schweiz. Wie gehen Herzinfarktpatient*innen und ihre Angehörigen damit um, wie erlangen sie das Vertrauen in den eigenen Körper zurück? Wir sprechen mit dem Kardiopsychologen Marcel Zwyssig und lernen in dieser Folge Peter Giger und seine Ehefrau Denise aus Lyss kennen, die erste Hilfe geleistet hatte, als ihr Mann vor fünf Jahren zusammenbrach.