«Da verspürte ich eine tiefe Dankbarkeit»

Ein schrecklicher Autounfall riss Claudia Meier vor zwei Jahren aus dem gewohnten Alltag. Während der Fahrt erlitt sie einen Herz-Kreislauf-Stillstand. Eine junge Frau rettete sie. Langsam lernt Claudia Meier zu verstehen, was passiert ist.

Aktualisiert am 15. Februar 2024
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Wir fahren mit Claudia Meier an den Unglücksort. Vor zwei Jahren an einem Novembermorgen hörte ihr Herz auf zu pumpen und sie raste an dieser Stelle ins Brückengeländer. Sie war damals 37 Jahre alt. Inzwischen ist eine neue Brüstung errichtet worden, die Spuren sind verschwunden. Claudia Meier hält sich am kalten Metall fest, sie spricht noch immer von «ihrem» Geländer. Der Unfall wird sie das ganze Leben begleiten.

An jenem Morgen fuhr sie wie jeden Tag zur Arbeit nach Altstätten im St. Galler Rheintal. Was zu jenem Zeitpunkt mit ihr und ihrem Auto geschah, weiss sie nicht mehr. Das Auto erlitt beim Unfall einen Totalschaden. Später zu Hause zeigt sie auf dem Tablet die Fotos der Polizei. Von der Polizei erfuhr sie auch, dass zwei Männer in einem Lieferwagen anhielten und ihr helfen wollten. Die beiden waren jedoch ratlos. Kurz darauf stoppte eine junge Frau, die sofort mit der Herzdruckmassage begann. «Sie war mein Schutzengel», sagt Claudia Meier. Die Sanität kam rasch und verabreichte ihr an der Unfallstelle fünfmal einen Elektroschock. Anschliessend flog sie ein Helikopter nach St. Gallen ins Spital.

Was ist passiert? Weshalb hat es sie getroffen? Noch heute versucht Claudia Meier, sich aus einzelnen Puzzleteilen ein Bild von jenem Morgen zu machen. Als es geschah, arbeitete ihr Ehemann Tom auf einer Baustelle. Er erhielt einen Anruf, er solle sofort zurück zur Geschäftsstelle. Die Polizei sei dort, etwas Schreckliches sei passiert. «Ich dachte zuerst, dass den Kindern etwas zugestossen sei», erzählt er. Nachdem die Polizisten ihn aufklärten, sorgte er dafür, dass sich die Grosseltern um Anna und Filip kümmerten, und fuhr direkt ins Spital. «Meine Frau befand sich zwei Tage im Koma, eine Prognose konnte noch niemand abgeben», sagt er. Eine Woche später erhielt sie einen ICD, einen implantierbaren Defibrillator, der sie bei weiteren Vorfällen schützt. Die Diagnose lautete idiopathisches Kammerflimmern. Was dieses ausgelöst hatte, war unklar. Ihr Herz hatte plötzlich viel zu schnell zu schlagen begonnen und konnte deshalb kein Blut mehr durch den Körper pumpen. Der Herz-Kreislauf brach zusammen, sie wurde hinter dem Steuer bewusstlos.

«Es beschäftigt mich heute nicht mehr, ob es nochmals geschehen könnte.»


Kurz vor Weihnachten, nach einem längeren Reha-Aufenthalt, durfte Claudia Meier wieder zur Familie nach Hause. «Das war das grösste Geschenk in meinem Leben», sagt sie. Anna und Filip malten mit Fingerfarben Willkommensgrüsse auf die verglaste Wohnzimmertüre, die Grüsse stehen heute noch dort. Die Freude war riesig, die Familie war endlich wieder komplett. Nun musste Claudia Meier im Alltag wieder Fuss fassen. Die Situation verarbeiten. Sich mit ihrem ICD abfinden. Er hat die Grösse einer halben Handfläche und liegt gut spürbar unter der Haut über der Brust. Sollte das Herz wieder viel zu schnell zu schlagen beginnen, gibt der ICD einen Stromstoss ab und bringt es in einen normalen Rhythmus. Zum Glück ist dies noch nie passiert. Jedoch hat das Gerät Rhythmusstörungen aufgezeichnet. Dagegen erhält sie nun Medikamente. «Ich vertraue meiner Therapie», sagt sie, «es beschäftigt mich heute nicht mehr, ob es nochmals geschehen könnte.»
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Für Ehemann Tom, Anna und Filip zuerst ein Riesenschock, dann ein Riesengeschenk: Claudia Meier ist heute wieder Teil der Familie.

An der Unfallstelle steigen wir wieder ins Auto. Claudia Meier setzt sich ans Steuer, es ist dasselbe Modell im gleichen Hellgrau – der Wagenkauf führte zu Diskussionen. Für die Familie wurde dieses Auto zum Ausdruck der Normalität, dass das gemeinsame Leben weitergeht. Sie hatten grosses Glück. «Mein Leben hat sich sogar zum Positiven verändert», erzählt sie, «die alltäglichen Problemchen beschäftigen mich nicht mehr so wie früher.» Und dennoch nagen Fragen an ihr, auf die sie stets keine Antworten erhalten hat. Könnte sie nur mit Menschen sprechen, die Ähnliches durchgemacht haben, denkt sie. Ein solcher Austausch fehlt ihr heute noch.

Mit ihrem Schutzengel hat sie gesprochen. Sie fand zufällig über eine gemeinsame Bekannte heraus, wer die junge Frau ist, die ihr das Leben gerettet hat. Per Sprachnachrichten nahm Claudia Meier Kontakt mit ihr auf und fragte sie, ob sie sich treffen könnten. Jeanine, so heisst sie, willigte ein. Sie verabredeten sich zu einem Spaziergang. Als Jeanine aus dem Auto ausstieg und auf sie zusteuerte, umarmten sich beide Frauen spontan. «Da verspürte ich eine tiefe Dankbarkeit, die ich nicht in Worte fassen kann», erzählt Claudia Meier. Während des Spaziergangs konnten sie wichtige Dinge klären. Weitere Puzzlestücke fügten sich zusammen, das schreckliche Ereignis wurde langsam zu ihrer eigenen Geschichte. Beim Abschied von Jeanine ergriff sie plötzlich ein erlösendes Gefühl. Sie wusste, dass nun alles gut kommt.