«Die haben einen extrem guten Job gemacht»
In der Silvesternacht 2020 brach Jacques Fuhrer zusammen, nachdem sein Herz plötzlich aufgehört hatte zu schlagen. Was in diesen Stunden und Tagen genau geschah, wird ihm für immer verborgen bleiben. Heute weiss er aber, dass er riesiges Glück hatte.
Den meisten Menschen wird der Moment des Herzinfarkts oder Hirnschlags in Erinnerung bleiben. Bei Jacques Fuhrer ist es gerade umgekehrt. Alles, was er über sein Ereignis erzählt, hat er selbst nicht mitbekommen. Er weiss nur, was ihm andere berichtet haben, Ärzt*innen, Familie und Freunde, seine Frau Hemma. Zehn Tage seines Lebens sind unauffindbar verloren gegangen.
Mit Hemma hatte er die letzten Stunden verbracht, bevor er ins Spital eingeliefert wurde. Es war Silvester 2020, während der zweiten Welle der Covid-19-Pandemie, die Restaurants und Bars in Bern waren wieder geschlossen. «Wir füllten eine Thermoskanne und gingen gegen 23 Uhr zur Münsterplattform», erzählt der heute 53-Jährige. Auch daran mag er sich nicht mehr erinnern, der letzte Tag des alten Jahres ist aus seinem Gedächtnis gelöscht. Hemma und er sassen dort zusammen auf einer Bank und irgendwann sagte er ihr, dass es ihm nicht gut gehe. Zehn Sekunden später war er bewusstlos und atmete nicht mehr. Sie wusste sofort, was los war, und begann mit der Reanimation. Gleichzeitig rief sie nach Unterstützung und alarmierte den Notruf. «Meine Frau arbeitete lange auf der Herzintensivstation als Pflegefachfrau, mehr Glück kann man in einer solchen Situation nicht haben», sagt Jacques Fuhrer rückblickend.
Trotz professionellem Einsatz blieb das Herz noch lange still. Nach einer Dreiviertelstunde Reanimation wird es kritisch für den Körper und insbesondere das Gehirn, dass die Notfallmediziner*innen in der Regel ans Aufhören denken. Jacques Fuhrer hatte nochmals riesiges Glück, sein Herz begann nach 53 Minuten wieder zu schlagen. Sein Leben ging weiter, wenn auch auf der Intensivstation des Berner Inselspitals. Zehn Tage lag er im Koma. Als er später die Spitalberichte las, wurde ihm klar, dass er um ein Haar nicht überlebt hätte. Die Nieren versagten, die Lunge war von den Wiederbelebungsmassnahmen verletzt, man konnte ihn nur schlecht beatmen und die vielen gebrochenen Rippen mussten operiert werden, weil sie so schmerzten. «Es war für die Ärztinnen und Ärzte eine Gratwanderung, bei der jeder falsche Schritt das Aus bedeuten konnte», sagt Jacques Fuhrer, «und sie haben einen extrem guten Job gemacht.»
Jacques Fuhrer hatte einen Herzinfarkt, ausgelöst durch die Dissektion der RIVA-Arterie, eines Hauptasts der Herzkranzgefässe. Das ist ein eher seltenes Ereignis, bei der die Innenschicht des Gefässes aufreisst und sich mit Blut füllt. Dadurch verringert sich der Gefässdurchfluss, was zu einem Herzinfarkt und schliesslich zum gefürchteten Herz-Kreislauf-Stillstand führen kann. Weshalb eine Dissektion entsteht, ist, im Gegensatz zum herkömmlichen Herzinfarkt bei einer arteriosklerotischen Verengung, nicht ausreichend bekannt. Auch war Jacques Fuhrer vor dem Ereignis sportlich und gesund. Er hatte keine Risikofaktoren ausser – und jetzt beginnt er auszuholen – den Stress in seinem Beruf. Er führte eine Abteilung mit rund 60 Mitarbeiter*innen und war in dieser Zeit stark gefordert. Ob dies nun einen Einfluss auf das Ereignis hatte, weiss man nicht. Doch das Ereignis hatte einen Einfluss auf seinen Job. «Dass mein Leben einmal aufhört, ist mir deutlich vor Augen geführt worden», sagt Jacques Fuhrer, «ich frage mich seitdem, wie ich es sinnvoller verbringen kann.» Im letzten Jahr verliess er die Firma, in der er 21 Jahren gearbeitet hatte.
«Das Schlimmste habe ich hinter mir. Von nun an wird es besser.»
Die grösste Sorge von Jacques Fuhrer war, dass durch die lange Reanimation das Gehirn verletzt worden war. Doch ausgiebige Untersuchungen verzeichneten glücklicherweise keine Folgeschäden. Er fühlte sich bald gesund und kam rasch wieder in die Gänge. «Das Schlimmste», sagt er, «habe ich sowieso hinter mir, von jetzt an wird es nur besser.» Er ist ein von Grund auf optimistischer Mensch. Für seine Frau Hemma, die alles hautnah erlebt hatte, war die Zeit nach dem Ereignis schwieriger als für ihn. Sie wollte ihn am Anfang eher bremsen und brauchte Zeit, wieder Vertrauen zu fassen. Dass sich dies wieder ereignen könnte, beschäftigte beide stark. Der Kardiologe beruhigte sie. Das Risiko einer Dissektion sei so klein, sagte er, dass einem das nur einmal im Leben passiere.
Dissektion – selten und oft gefährlich
Von einer Dissektion spricht man, wenn die Innenwand einer Arterie einreisst und es zwischen die Wände hineinblutet. Dadurch entsteht ein Bluterguss, der die Arterie teilweise oder vollständig verschliesst. Jede Arterie des Körpers kann betroffen sein. Beim Herzkranzgefäss führt dies zum Herzinfarkt. Die sogenannte Koronardissektion ist selten. Ursache ist eine meist unsichtbare Gewebewandschwäche, die entweder angeboren oder durch eine Infektion erworben worden ist. Häufigster Auslöser ist eine psychische oder körperliche Belastung. Die medizinische Betreuung von solchen Patient*innen ist sehr anspruchsvoll.