Hilft künstliche Intelligenz, Herzen zu heilen?

In der Kardiologie wird der Einsatz der künstlichen Intelligenz (KI) besonders intensiv erforscht. Das Ziel ist, Herzkrankheiten möglichst früh zu erkennen und Herzpatient*innen noch besser medizinisch zu behandeln. Die Frage ist, ob die KI diese Versprechen tatsächlich einlösen kann.

Aktualisiert am 15. Februar 2024
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Vielleicht haben Sie sich schon mal gewundert, weshalb Sie auf dem Handy so tolle Fotos schiessen. Das liegt möglicherweise weniger an Ihren Fähigkeiten als an der vom Handy eingesetzten künstlichen Intelligenz (KI). Diese analysiert ein Bild blitzschnell und bessert es, wo nötig, nach. Die KI übernimmt immer mehr Aufgaben, die früher nur Menschen erledigen konnten. Dazu zählen: Texte übersetzen, Gesichter erkennen und Gesprochenes verstehen und darauf reagieren. Ohne es zu merken, benützen wir solche KI bereits heute und bald noch in ganz anderen Bereichen unseres Alltags. «Die künstliche Intelligenz wird unsere Gesellschaft massiv verändern und dies schon in den nächsten fünf bis zehn Jahren», sagt Prof. Thomas F. Lüscher, Vorsitzender der Forschungskommission der Schweizerischen Herzstiftung. Auch Teile der Medizin werden aus den Angeln gehoben.

Nimmermüde und effizient
Die KI hilft Ärztinnen und Ärzten heute schon bei gewissen Aufgaben, zum Beispiel beim Lesen eines Röntgenbildes. «Zukünftig wird es viel weniger Radiologinnen und Radiologen brauchen», sagt Lüscher, «weil der Computer die Bilder genauso gut oder noch besser als sie lesen kann.» Schon die Tatsache, dass ein Computer nie müde oder abgelenkt werde, sei ein Vorteil, so Lüscher. Möglich ist diese Entwicklung dank der riesigen Datenmenge, die uns heute zur Verfügung steht. Besonders in der Kardiologie hat man schon früh fleissig Gesundheitsdaten gesammelt. Die berühmte Framingham-Studie registriert seit den 1950er-Jahren die kardiovaskulären Risikofaktoren der Bewohner*innen der Kleinstadt Framingham bei Boston. Damals passierte dies noch auf Papier. Unterdessen sind in der Herzmedizin viele Daten durch Krankheitsregister elektronisch verfügbar. Diese kann ein Computer deuten lernen.

Die KI sieht mehr als der Mensch
Bei EKGs geschieht dies schon. Wer eine Smartwatch mit einer einfachen EKG-Funktion hat, erhält eine durch KI unterstützte Auswertung. Dass dies auch bei einer Uhr recht gut funktioniert, darüber haben wir hier bereits berichtet. Eine an der Mayo Clinic in den USA entwickelte KI kann aus einem unauffälligen EKG herauslesen, ob Patient*innen früher schon einmal eine Vorhofflimmern-Episode hatten. Dies hilft, Vorhofflimmern frühzeitig zu erkennen und Hirnschläge zu vermeiden. Und noch mehr: KI kann aus ein paar wenigen aufgezeichneten Herzschlägen das Geschlecht, biologische Alter und Anzeichen für eine Fehlfunktion der linken Herzkammer herauslesen. «Die KI sieht in Daten Dinge, die wir Menschen nicht sehen können», sagt Lüscher, «sie liefert uns blitzschnell wertvolle Informationen.»

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Von Gesicht und Stimme lernen
Bei bildgebenden Verfahren wie Echokardiogramm, CT oder MRI wird künftig künstliche Intelligenz eingesetzt werden. Sie ermöglicht nicht nur, rasch eine genaue Diagnose zu erstellen, sondern auch individuelle Risiken noch besser vorauszusagen. Dies ist für eine Behandlung, die ganz auf die jeweiligen Patient*innen abgestimmt ist, von grossem Vorteil. Zukünftig hilft die KI also abzuschätzen, wer zum Beispiel in nächster Zukunft eine Herzinsuffizienz entwickeln wird. «Dies ist deshalb möglich», erklärt Lüscher, «weil die KI fähig ist, sehr viel mehr Variablen zu berücksichtigen als wir Fachpersonen.» Wertvolle Hinweise für die Diagnose und Therapie liefern auch ganz andere Körpersignale. Nur zwei Beispiele: Die Gesichtserkennung kann Aussagen machen über die generelle Herzgesundheit und Gesundheitsaussichten einer Person. Die Stimmerkennung wiederum gibt Hinweise darauf, ob eine Person Vorhofflimmern hat oder mit einer Herzinsuffizienz eine Dekompensation erlebt. Dies hilft in der Nachbehandlung, Notfälle zu verhindern.

Wozu braucht es noch Ärzt*innen?
Neben den zahlreichen Vorteilen gibt es auch Gefahren. Die Ergebnisse einer KI sind nur so gut wie die Daten, auf denen sie basieren. Wenn die Daten eine Verzerrung aufweisen, beispielsweise weil sie nur von Männern oder einer bestimmten Volksgruppe stammen, können sie für andere Personengruppen falsche Resultate liefern. Daher müssen die Daten möglichst breit erhoben, immer gut überprüft und über die Zeit hinweg angepasst werden. Braucht es bald noch einen Arzt oder eine Ärztin, fragt man sich angesichts solcher Umwälzungen. Ja, sagt Lüscher. Ärzt*innen müssen Ergebnisse immer kontrollieren und Empfehlungen kritisch überprüfen. Dies wird in absehbarer Zukunft so bleiben. Auch Maschinen können falsche Resultate liefern und dürfen deshalb nie allein Entscheidungen treffen. Die KI wird sich in jenen Bereichen nicht durchsetzen, in denen Empathie gefragt ist. Also dort, wo Menschen auf die Seelenlage und die Bedürfnisse anderer Menschen eingehen müssen. «Womöglich trägt der Effizienzgewinn der KI dazu bei, dass Ärztinnen und Ärzte wieder mehr Zeit fürs Gespräch haben», meint Lüscher. Für die Medizin sieht er fast nur Vorteile. In der Gesellschaft hingegen werde es wohl Veränderungen geben, die zahlreiche Berufsgruppen komplett auf den Kopf stellten, spekuliert Lüscher. Dafür werden wohl ganz neue Lösungen erforderlich.

Wie funktioniert KI?

Künstliche Intelligenz fusst auf drei Prinzipien. Erstens stehen uns heute in allen Bereichen des Lebens eine Unmenge elektronischer Daten zur Verfügung. Zweitens haben wir sehr leistungsstarke Computer, die grosse Datenmengen rasch verarbeiten. Drittens können Computer mit immer besseren Algorithmen und neuronalen Netzwerken trainiert werden, eine Aufgabe selbstständig zu erledigen. Also in Daten ein Muster zu erkennen und darüber Aussagen zu machen, beispielsweise ob ein Patient, eine Patientin eine bestimmte Therapie braucht oder nicht. Die Computer verbessern sich durch wiederholtes Ausprobieren an immer neuen Daten und erzielen bei ihren künftigen Aussagen eine stets höhere Trefferquote.