«Meine eigene Hand war mir fremd»
Es müssen nicht dramatische Folgen wie Lähmungen oder Sprachverlust sein. Nach einem Hirnschlag können auch Missempfindungen und Schmerzen zurückbleiben. Wie belastend dies dennoch ist, hat Katrin Wyss am Neujahrsmorgen vor vier Jahren erfahren.
An einer Vernissage in der Nähe von Bern geschah es dann unerwartet: Katrin Wyss konnte wieder lachen. Eine gute Freundin machte einen blöden Versprecher, es war nicht einmal besonders lustig. Katrin Wyss konnte sich nicht zurückhalten und prustete los. Fünf Minuten lang erlagen die beiden einem Lachanfall. Danach verspürte sie eine grosse Entlastung. Sie merkte, dass es jetzt wieder bergauf ging, erstmals nach der langen Durststrecke.
Das Jahr hatte schlecht angefangen. Am Neujahrstag 2017 erlitt die damals 49-Jährige einen Hirnschlag. Ihre letzten fröhlichen Momente verbrachte sie am Silvesterabend mit ihrer Familie. Um Mitternacht gingen sie zusammen zum Stall unweit vom Haus entfernt, weil man dort das Feuerwerk schön sehen kann. Sie stiessen auf ein gutes Jahr an. Erschöpft liess sich Katrin Wyss in ihrer Wohnung aufs Sofa plumpsen und schlief gleich ein.
Um vier Uhr morgens erwachte sie und stand auf. Ihr war nicht wohl, die Haut fühlte sich kalt an und das Gesicht war ihr eingeschlafen. «Ich dachte gleich an einen Hirnschlag», sagt sie. Sie stellte sich im Badezimmer vor den Spiegel, betrachtete sich, sprach und pfiff. Alles schien noch normal zu funktionieren. Daraufhin ging sie ins Bett und schlief bis um elf Uhr. Doch am Morgen waren die Symptome noch da. Sie erzählte ihrer Schwester, dass sich die linke Gesichtshälfte taub anfühle und die Fingerspitzen der linken Hand unangenehm kribbelten. Diese riet ihr, den ärztlichen Notfalldienst anzurufen. Danach fuhr sie die Schwester ins Spital nach Solothurn.
Noch heute ein ekliger Schmerz
Echt dramatisch erschien es Katrin Wyss nicht. «Ich habe vorher sogar noch geduscht», sagt sie und lacht dabei. In der Stroke Unit des Bürgerspitals Solothurn ging dann aber alles sehr schnell. Sie erhielt Infusionen, eine Computertomografie wurde erstellt. Der Verdacht bestätigte sich, sie hatte einen Hirnschlag. Doch für die Notfallbehandlung war es zu spät. Sie kam auf die Intensivstation und durfte 24 Stunden nicht aufstehen, damit das Gehirn möglichst gut durchblutet bleibt. Wie es zum Hirnschlag gekommen war, konnte ihr niemand sagen. Sie gehört zu den 30 Prozent der Patient*innen, bei denen man trotz genauer Untersuchungen keine klare Ursache findet.
Als sie das Spital verliess, war Katrin Wyss fast euphorisch. Schliesslich hatte sie den Hirnschlag gut überstanden. Sie lebte noch und die Folgeschäden würde man als gering bezeichnen. Die kalte Dusche kam in den Wochen danach, ihr ging es täglich schlechter. «Meine linke Hand fühlte sich ganz seltsam an. Sie war zwar meine, aber sie war mir fremd. Ich empfand Ekel», erinnert sie sich. Missempfindungen hat sie noch heute, besonders das Gesicht ist nicht mehr das gleiche. In Stresssituationen fühlt sich die linke Hälfte hart und unbeweglich an und ein unangenehmer Schmerz frisst sich bis tief in die Zähne hinein.
Die Anstrengung unterschätzt
Der Hirnschlag stürzte sie in eine Krise mit Ängsten und Panikattacken. «Ich schloss meine Haustüre nicht mehr ab, damit man mich schneller rettet, wenn mir wieder etwas passieren sollte», erzählt sie. Nachts wachte sie oft auf, tagsüber war sie müde. Ein grosser Fehler war, dass sie zu früh und mit einem zu hohen Pensum ihre Berufsarbeit wieder aufnahm. «Ich hätte gleich zu Beginn klarmachen sollen, dass dies so nicht geht», sagt Katrin Wyss rückblickend. Sie glitt in einen Erschöpfungszustand, nach der Arbeit gab es für sie nur noch das Schlafen. Während es ihr immer schlechter ging, liess das Verständnis der anderen immer mehr nach. Man sah ihr nichts an, sie konnte ja alles noch, sie müsste eigentlich froh sein. «Schlimm war, wenn man mir sagte, ich solle mich zusammenreissen», sagt sie, «das half mir gar nicht.»
Sich genug Zeit lassen
Ihr halfen eine Psychotherapie und Medikamente. Und der tägliche Ausritt mit ihrem irischen Reitpony Corrib. Das Tier war der geduldige Zuhörer, der ihr sonst fehlte. «Corrib war nie genervt wegen mir, auch nicht, wenn mir mal die Tränen kamen», sagt sie. Die Stunden in der Natur taten ihr gut, die frische Luft und die körperliche Aktivität ermüdeten weniger als die Denkarbeit am Arbeitsplatz. Heute fühlt sie sich wieder in Form, sie hat ihren Platz im Leben zurückerkämpft.
Ein Hirnschlag hinterlässt immer Narben. Die Folgeschäden sind unterschiedlich, die Verarbeitung des Ereignisses gelingt nicht allen gleich. Katrin Wyss hat dennoch einen Ratschlag, gerade für solche, die glimpflich davongekommen sind: «Lasst euch nach dem Hirnschlag unbedingt viel Zeit für die Erholung. Wenn es irgendwann nicht mehr geht, sagt euch, an erster Stelle stehen ich und meine Gesundheit!»