Kleine Klappen, grosse Erfolge

Thomas Pilgrim widmet sich seit über zehn Jahren den Herzklappenerkrankungen. Dies bedeutet in der Schweiz Hightechmedizin. In armen Ländern jedoch genügten viel einfachere Mittel, um gefährliche Klappenfehler zu verhindern. Für seine breite Forschungstätigkeit erhält er den Forschungspreis 2021 der Schweizerischen Herzstiftung.

Aktualisiert am 29. Januar 2024
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Der Hybrid-Operationssaal im Berner Inselspital ist Professor Thomas Pilgrims tägliches Einsatzgebiet. Das ist ein hochtechnisierter Raum, in dem Eingriffe per Katheter, aber auch grössere Operationen durchgeführt werden können. Dieser Saal steht symbolisch für die Entwicklung, welche die Herzmedizin in den letzten Jahren durchgemacht hat. Hybrid bezeichnet etwas Vermischtes, Gekreuztes.

Immer mehr Eingriffe am Herzen finden in enger Zusammenarbeit zwischen Kardiologie und Herzchirurgie statt und werden minimalinvasiv durchgeführt, also durch kleine Öffnungen im Körper mit Unterstützung von Kathetertechnik und bildgebenden Verfahren. Dadurch ergeben sich ganz neue Behandlungsmöglichkeiten. Genau dies fasziniert den 43-jährigen Kardiologen und Herzklappenspezialisten. «Wir erleben gerade einen grundlegenden Wandel», sagt er.

Unvorstellbares wird wahr
Als Thomas Pilgrim sein Medizinstudium abschloss, gab es das, was für ihn heute Routine ist, noch nicht. Der Herzklappenersatz war die Domäne der Herzchirurgen. Denn eine Klappenimplantation war nur durch eine aufwendige Operation möglich: Narkose, durchtrenntes Brustbein, Herz-Lungen-Maschine, Operation am offenen Herzen, bei der die alte Klappe herausgeschnitten und die neue eingenäht wird. Eine solche Belastung konnte man nicht allen kranken und vor allem älteren Patient*innen zumuten. Eine verengte Aortenklappe (Aortenstenose), der häufigste behandlungsbedürftige Klappenfehler, bedeutete für diese Personen im schlimmsten Fall eine Lebenserwartung von noch wenigen Jahren.

2002 gelang dem französischen Kardiologen Alain Cribier der grosse Coup. Er entwickelte ein schonendes Verfahren, das man bereits aus der Behandlung des Herzinfarkts kannte: Die künstliche Aortenklappe soll auf wenige Millimeter zusammengedrückt mittels Katheter über die Blutgefässe zum Herzen transportiert und dort eingesetzt werden – ähnlich wie ein Stent bei einem Herzinfarkt.

Im Normalfall braucht der oder die Betroffene für einen solchen Eingriff nur eine örtliche Betäubung und eine Punktion der Leistenarterie. Von dort wird der mit der Herzklappe bestückte Katheter zum Herzen vorgeschoben. Die Klappe wird dort, wo sich die natürliche Herzklappe befindet, platziert und freigesetzt. Dadurch drückt sie die erkrankte Herz klappe an die Gefässwand und sitzt nach nur ein paar Sekunden anstelle der alten fest verankert im Herzen.

Schon nach wenigen Tagen kann der Patient, die Patientin das Spital verlassen. Was zunächst unvorstellbar schien, wurde fünf Jahre später in der Schweiz erstmals am Berner Inselspital durch geführt. Thomas Pilgrim assistierte bei den Eingriffen und führte 2010 seine erste Transkatheter-Aortenklappen-Implantation (TAVI) durch. «Eine Herzklappenimplantation per Katheter war eine Neuheit und deshalb auch immer mit einer grossen Aufregung verbunden», erinnert er sich.

Spitzenmedizin – aber nicht überall
Damals brauchte es für den Eingriff noch zwei Stunden, er war mit einem grösseren Komplikationsrisiko verbunden als heute, da die Bildgebung weniger genau und die Katheter im Vergleich zu den heute verwendeten dicker, steifer und unbeweglicher waren. Gegenwärtig dauert eine TAVI noch 40 Minuten und ist zum Routineeingriff geworden. Dafür sind die Ansprüche und der Aufwand für die Vorbereitung stark gestiegen. Der günstigste Zeitpunkt eines solchen Eingriffs wird diskutiert, welches Modell zum Einsatz kommt und wie man Komplikationen reduziert. Zwar wird die Methode immer besser, dennoch bleibt wie bei allen Eingriffen ein kleines Restrisiko: Die Klappe kann falsch zu liegen kommen, nicht ganz dicht sein oder das Reizleitungssystem beeinträchtigen, sodass ein Schrittmacher nötig wird. In seltenen Fällen kann der Eingriff einen Hirnschlag auslösen.

Um die Sicherheit und Wirksamkeit der heutigen Klappen systematisch zu untersuchen, verglich Thomas Pilgrim in einer randomisierten Studie zwei grundlegend unterschiedliche Klappensysteme: Bei einem System wird die Herzklappe über einen Ballon am Ort der natürlichen Herzklappe an die Aortenwand gedrückt. Beim anderen System entfaltet sich die Herzklappe von selbst, sobald eine Hülle zurückgezogen wird. Zusammen mit seinem Forscherteam konnte er aufzeigen, dass bei der beobachteten Patient*innengruppe ein selbst entfaltendes System nicht die gleich guten Resultate brachte wie dasjenige, das über einen Ballon freigesetzt wird.

«Die Entwicklungen in den letzten zehn Jahren sind enorm», sagt Thomas Pilgrim, «die Datenlage zeigt, dass TAVI und der offene, chirurgische Herzklappenersatz hinsichtlich des Risikos für Tod oder Hirnschlag gleichwertig sind.» Mittlerweile wird ein Kathetereingriff nicht mehr nur bei Risikopatient*innen durchgeführt. Anzahlmässig haben die TAVI die Operationen sogar überflügelt. Die Erfolge haben zu einem regelrechten Sog geführt, der sich auf andere Eingriffe auswirkt. Auch andere Klappen können heute minimalinvasiv behandelt werden.

Kurz: Die Herzmedizin ist in unserem Land auf einem sehr hohen Niveau angelangt. Gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass es sich dabei um eine Spitzenmedizin handelt, die vor allem für die betagte Bevölkerung in den reichen Ländern zur Anwendung kommt. In grossen Teilen der Welt ist nicht die altersbedingte Abnützung der Herzklappen das Problem. Betroffen sind dort vor allem Kinder und junge Erwachsene.

Mit Penicillin-Spritzen die Krankheit stoppen
Mindestens einmal pro Jahr reist Thomas Pilgrim nach Nepal. Fern ab vom Hybrid-Operationssaal in Bern trifft er dort auf eine ganz andere Welt und ganz andere Patient*innen. In Nepal erleidet jedes hundertste Kind einen Herzklappenfehler rheumatischen Ursprungs, einer heimtückischen Krankheit, die bei uns zum Glück kaum mehr vorkommt.

Alles beginnt mit einer eher harmlosen bakteriellen Mandelentzündung, die wieder abklingt, dann aber in ein akutes rheumatisches Fieber übergehen kann. Im jungen Körper entwickelt sich eine fehlgeleitete entzündliche Reaktion, welche die Herzklappen angreift. Wird diese Reaktion nicht gestoppt, können schon früh bleibende Schäden auftreten. Die Herzklappen werden undicht oder eng, was unbehandelt längerfristig zu einer Herzschwäche, zu einem Hirnschlag und letztlich zum Tod führt. Dabei könnte man die Krankheit relativ einfach und sehr kostengünstig behandeln, wie Thomas Pilgrim in einer grossen Studie an nepalesischen Schulen nachgewiesen hat. Wenn man Kinder per Ultraschall untersucht und eine solche Herzklappenerkrankung im Frühstadium erkennt, stoppen monatliche Spritzen mit Penicillin die Krankheit oder machen sie teils rückgängig.

«Bis zu zwei Drittel aller Herzklappentodesfälle weltweit könnten mit einfachen Mitteln verhindert werden», resümiert Thomas Pilgrim seine Studie. Die Frage, ob eine Operation am offenen Herzen oder ein kathetertechnischer Klappeneingriff besser ist, stellt sich in den meisten Ländern gar nicht erst. Für seinen Einsatz in der kardiologischen Forschung erhält der Herzklappenspezialist den Forschungspreis 2021 der Schweizerischen Herzstiftung.

Die Schweizerische Herzstiftung fördert Forschungsprojekte, um Patientinnen und Patienten in Zukunft besser helfen zu können.
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