Herznotfall im Bergtal

Was passiert beim Herzinfarkt, wenn man in einem Bergdorf wohnt? Aristo von Weissenfluh hat deren drei erlebt und dazu noch einen Hirnschlag. Er und seine Familie überstanden nicht nur dramatische Momente, sondern kämpften auch lange mit Existenzängsten.

Aktualisiert am 29. Januar 2024
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Aristo von Weissenfluh schmunzelt immer wie­der über die Geschichten in diesem Magazin, in denen zehn Minuten nach dem Notruf die Ambulanz eintrifft. Bei ihm dauerte es 42 Minuten. «Wir haben hier oben eine andere Zeitrechnung», fügt er an, «und 42 Minuten sind bei einem Herzinfarkt eine lange Zeit, da kann viel passieren.»

Wir befinden uns im Gadmertal, dem oberen Teil des Haslitals Richtung Sustenpass. Eine enge Passstrasse schlängelt sich dem Gadmerwasser entlang aufwärts, linker Hand zeigen sich Berggipfel, die an die Dolomiten erinnern. In diesem Tal sind der 55-­Jährige und seine Frau Sandra aufgewachsen und ihr Leben lang geblie­ben. Eine idyllische und wunderschöne Gegend für Menschen, welche die Ruhe und grandiose Natur schät­zen. Doch in Notfällen kann es hier zur Zitterpartie wer­den, wie die Familie Weissenfluh am 17. November 2013 erleben musste. Es war Sonntagabend. Nach einer an­strengenden Woche und einem langen Feuerwehrein­satz, der seit dem Morgen andauerte, schlüpfte Aristo von Weissenfluh müde unter die Bettdecke. Er erwachte mit einem unheimlichen Schmerz in der Brust und erlebte grosse Angst und Beklemmung. Seine Frau alar­mierte die Ambulanz. Kurze Zeit später trafen die First Responder ein, geschulte Ersthelfende, die im Notfall noch vor der Sanität Leben retten.

Während alle auf die Ambulanz warteten, massierte ihm der First Responder den Arm. Daran erinnert sich Aristo von Weissenfluh noch deutlich, denn das tat ihm wahnsinnig gut und nahm ihm die Schmerzen. «Ich habe gekämpft», erzählt er, «bis jemand sagte, jetzt komme die Ambulanz. Da liess ich los.» Als er vor Er­leichterung nachgab, hörte sein Herz auf zu schlagen. Seine Frau Sandra und der First Responder zogen ihn gleich vom Bett, rissen sein Pyjama auf und begannen mit der Herzdruckmassage. Unterdessen rannte der Sohn zum Ambulanzfahrzeug. Die Rettungssanitäter kamen gleich mit einem Defibrillator.

Es ging ans Lebendige
In den 42 Minuten bis zur Reanimation passierte viel. Aristo von Weissenfluh sah sich und die Menschen, die ihn zu retten versuchten, von weiter Entfernung wie ein unbeteiligter Dritter. Daraufhin überflutete ihn ein wohltuendes, erlösendes Licht. Es war ein schönes Gefühl, das er nur schwer beschreiben kann, eine voll­kommene Ruhe und Geborgenheit. Ein Rettungsheli­kopter brachte ihn ins Berner Inselspital, die Notfallbe­handlung im Katheterlabor bewahrte ihn vor dem bevorstehenden Tod. Doch das war bloss die erste Etap­pe einer langen Reise. «Von da an ist es nicht einfacher geworden», bemerkt er trocken. Im kommenden halben Jahr erlebte er noch zwei weitere Infarkte, einen wäh­rend der Rehabilitation und einen später in der ersten Woche des beruflichen Wiedereinstiegs. «Ich hatte an­fangs noch den festen Willen, dorthin zu kommen, wo ich vor den Herzinfarkten war», sagt von Weissenfluh, «doch nach dem dritten Helikoptertransport ins Insel­spital sah ich ein, dass dies nicht mehr möglich sein wird.»

Solche Ereignisse zehren an Körper und Psyche. Ener­gie kosteten ihn nicht nur die Infarkte und der müh­same Weg zurück in den Alltag. Auch die finanzielle Situation spannte sich an. Aristo von Weissenfluh konnte gemäss ärztlichem Zeugnis noch 40 Prozent arbeiten. Aber die Invalidenversicherung war anderer Meinung. Es begann ein langer Kampf mit einer mächti­gen Institution. Sandra von Weissenfluh musste sich beruflich neu orientieren, um das gemeinsame Leben zu finanzieren. «In dieser Zeit ging es uns ans Lebendi­ge», erinnert sie sich. Erst als ihm der Arbeitgeber einen Anwalt zur Seite stellte, bewegte sich etwas. Nach vier Jahren Rechtsstreit wurde Aristo von Weissenfluh eine Dreiviertelsrente der IV zugesprochen. Und just zu dem Zeitpunkt, als die beiden endlich wieder Boden unter den Füssen bekamen, ereignete sich das vierte Ereignis, diesmal ein ischämischer Hirnschlag mit anschliessen­der Hirnblutung.

Wieder ein Helikopter
Er und seine Frau fühlten sich in ihrem Leben endlich wieder wohl, Aristo von Weissenfluh sass auf der Ter­rasse und genoss die wärmende Herbstsonne. Plötzlich sah er auf dem rechten Auge nicht mehr richtig. Er ging ins Haus, um sich hinzulegen. Die rechte Körperhälfte spürte er nicht mehr, er dachte gleich an einen Hirn­schlag. Ein Notruf mit dem Handy gelang ihm jedoch nicht mehr wegen eines epileptischen Anfalls. «Wenn ich jetzt hier sitzen bleibe», sagte er sich, «dann findet mich Sandra erst am Abend, wenn sie von der Arbeit zurückkehrt.» Er raffte all seine Kräfte zusammen und schleppte sich die Treppe hinunter in die Wohnung zu seiner Mutter.

Kurze Zeit später landete ein weiteres Mal seit dem ersten Infarkt «sein» Helikopter, die Augusta Romeo Tango der Rega, auf der Wiese hinter dem Haus. «Nach dem Abtransport befürchteten wir nochmals das Schlimmste. Wir nahmen an, dass er sehr schwer behin­dert bleiben würde», sagt Sandra von Weissenfluh. Wieder einmal hatte er Glück im Unglück: Dank der schnellen Behandlung und der erstklassigen Rehabilita­tion sind die Folgeschäden heute vergleichsweise gering. Therapien helfen ihm, seine Sprache, Motorik und seine kognitiven Fähigkeiten zu verbessern.

Eine unglaubliche Erleichterung
Drei Infarkte und ein Hirnschlag – irgendwann macht einem die Situation trotz der guten Unterstützung in der Familie derart zu schaffen, dass man professionelle Hilfe braucht. Aristo von Weissenfluh suchte nach seinem dritten Herzinfarkt einen Psychiater auf. «Mein Leben hat sich komplett auf den Kopf gestellt. Ich bin ein ganz anderer Mensch geworden, damit hatte ich anfänglich grosse Mühe», sagt er. Er war Gemeinderat, Kirchgemeinderat, in der Feuerwehr aktiv, beendete gerade eine längere Weiterbildung, und plötzlich wird alles ganz anders.

Erst als er seine Situation zu akzeptieren lernte, ging es ihm besser. «Das war für mich eine unglaubliche Erleichterung und ein Neuanfang», sagt er. Sein Leben findet nun im Jetzt statt. Er macht, was für ihn möglich ist, und freut sich auch an den kleinen Dingen. Beson­ders wohltuend ist die Arbeit mit seinen Bienen und in der Holzwerkstatt. In schwierigen Momenten stand auch zur Diskussion, das Tal zu verlassen und sich einen anderen Wohnsitz zu suchen. In sicherer Nähe eines Spitals. Die beiden entschieden sich anders. «Ich glaube nicht, dass es mir an einem anderen Ort besser gehen würde, im Gegenteil», sagt Aristo von Weissenfluh. Seine Frau Sandra nickt zustimmend: «Nein, wir sind hier im Gadmertal zuhause.»

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