Die Blutfett-Gene früh aufspüren

Manche Menschen haben schon in jungen Jahren stark erhöhte Cholesterinwerte. Dafür verantwortlich ist eine vererbte Krankheit. Doch wie können sich Betroffene möglichst früh davor schützen? Ein Schweizer Forschungsprojekt prüft eine aussichtsreiche Methode.

Aktualisiert am 21. November 2024
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Aline Cretegny*, 46 Jahre alt, liegt im Herzkatheterlabor des Universitätsspitals Genf. Sie hat einen Herzinfarkt erlitten und erhält drei Stents. Weil sie für einen Infarkt sehr jung ist, macht dies die Ärztinnen und Ärzte hellhörig. Der Verdacht liegt nahe, dass Aline Cretegny erblich vorbelastet ist.

Ein Bluttest ergibt, dass ihr LDL-Wert, also das «schlechte» Cholesterin, bei 8 mmol/l liegt und damit stark erhöht ist. Auf Empfehlung ihrer Ärzte macht sie einen Gentest. Das Resultat zeigt tatsächlich, dass sie einen Genfehler in sich trägt, der für die hohen Blutfettwerte verantwortlich ist. Mit anderen Worten: Sie hat eine vererbte Krankheit, die man familiäre Hypercholesterinämie (FH) nennt.

Gestörter Fettstoffwechsel
Erhöhte Cholesterinwerte plagen viele Menschen. Das Blutfett wird im Blut auf zwei Eiweissen transportiert: Das LDL transportiert das Cholesterin von der Leber in die Zellen und Gewebe. Das HDL wiederum bindet das überschüssige Cholesterin und transportiert es aus den Organen und Gefässwänden zurück zur Leber. Ist im Blut zu viel LDL-Cholesterin und zu wenig HDL-Cholesterin vorhanden, sammelt sich das Blutfett in der Innenschicht der Arterien an. Es kommt zu entzündlichen Reaktionen, die Gefässe beginnen, sich zu verengen. Das Risiko einer Arteriosklerose erhöht sich und damit auch dasjenige eines Herzinfarkts oder Hirnschlags.

Bei der Mehrheit der Betroffenen sind unser heutiger Lebensstil oder damit verbundene Erkrankungen verantwortlich: Übergewicht, Diabetes, Bewegungsmangel sowie fett- und cholesterinreiche Ernährung sind Risikofaktoren. Eine familiäre Veranlagung, davon geht man aus, hat auch in diesem Fall einen Einfluss auf erhöhte Blutfettwerte.

Gewisse Patienten jedoch leiden trotz eines gesunden Lebensstils unter sehr hohen Werten. Bei ihnen ist der Fettstoffwechsel genetisch bedingt gestört. Die Funktion ihrer LDL-Rezeptoren ist beeinträchtigt, die Zellen können das LDL-Cholesterin nicht oder nur teilweise aufnehmen. Dadurch sammelt es sich im Blut an und lagert sich an verschiedenen Stellen im Körper ab. Heute kennt man drei fehlerhafte Gene, die eine FH verursachen. Sie sind für 95 Prozent der Fälle verantwortlich. Weil ein einziges verändertes Gen für die Krankheit ausreicht, spricht man von einer monogenetischen Erkrankung.

Die Krankheit früh erkennen
«Bei einer Patientin wie Aline Cretegny kommt die Erkenntnis leider etwas spät», sagt der Cholesterin-Spezialist PD Dr. David Nanchen von der Universität Lausanne. Besser wäre es gewesen, sie hätte dies viel früher, also lange vor ihrem Herzinfarkt erfahren. Denn Menschen mit einer FH haben meist schon vom Kindes- oder jungen Erwachsenenalter an stark erhöhte Cholesterinwerte, ohne etwas zu spüren. Je länger jemand mit hohen Cholesterinwerten lebt, desto grösser sind die Schäden an den Gefässen und damit das Herz-Kreislauf-Risiko. Oder umgekehrt: Je früher man eine FH entdeckt, desto besser sind die Prognosen.

Das defekte Gen und somit die Krankheit kann man nicht heilen. Aber eine Behandlung ist möglich. «Wir verfügen heute über erstklassige Medikamente, die das hohe Cholesterin auch bei einer FH senken», sagt David Nanchen. Die Statine sind als Cholesterinsenker gut etabliert. Sie reduzieren das Risiko eines Herzinfarkts, Hirnschlags oder einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (PAVK). Für gewisse Patienten gibt es darüber hinaus neue, interessante Therapieansätze, beispielsweise die PCSK9-Hemmer. Im Falle von Aline Cretegny geht es aber nicht nur um sie und ihre Therapie. Auch andere Familienmitglieder können diesen Genfehler in sich tragen, ohne es zu wissen.

In Kaskaden testen
Bei einer monogenetischen Krankheit beträgt das Risiko 50 Prozent, dass ein direkter Angehöriger oder eine Angehörige das Gen ebenfalls in sich tragen. Das heisst: Die Eltern, Geschwister und Kinder von Aline Cretegny sind mit einer hohen Wahrscheinlichkeit davon betroffen. Deshalb ist es wichtig, dass sie ihre Krankheit innerhalb der Familie anspricht, damit andere Familienmitglieder sich ebenfalls testen lassen. In der Vergangenheit hat man dies viel zu wenig beachtet.

Bislang hat die Ärztin oder der Arzt, wenn überhaupt, den diagnostizierten Patienten darauf aufmerksam gemacht, dass er seine Familie darüber aufklären sollte. Denn andere Menschen direkt informieren dürfen Ärztinnen und Ärzte nicht. Auch deshalb ist die FH unter diagnostiziert. Man geht davon aus, dass jede 200. Person in der Schweiz daran erkrankt ist. Nur 15 Prozent davon haben einen Krankheitsbefund. «Das ist zu wenig», sagt David Nanchen, «wir müssen deshalb neue Wege finden.»

Ein Forschungsprojekt, finanziert von der Schweizerischen Herzstiftung, will die Wirksamkeit des sogenannten Kaskaden-Screenings überprüfen. Dies ist ein vielversprechendes Programm, das sich in Ländern wie den Niederlanden oder Dänemark bereits bewährt hat. Das Ziel ist, möglichst viele Erkrankte im familiären Umfeld zu entdecken. Dabei setzt der Projektleiter David Nanchen auf die Informationstechnologie: Dank einer Internet-Plattform kann eine erkrankte Person ganz einfach mit der Familie in Kontakt treten.

Betroffene direkt kontaktieren
Die Plattform verschickt an alle Familienmitglieder ersten Grades ein SMS, woraufhin sie sich registrieren können. Dies wiederum ermöglicht den Ärzten, mit den allfälligen Betroffenen direkt in Kontakt zu treten, um sie zu einem Test zu motivieren. Gerade dieser direkte ärztliche Kontakt ist bislang noch nicht auf seine Wirksamkeit hin überprüft worden. «Wir hoffen, dass wir mit unserer Methode die Anzahl der Diagnostizierten von 15 auf 40 Prozent steigern», sagt David Nanchen.

Stellt sich das Projekt als erfolgreich heraus, wird das Kaskaden-Screening allen Ärztinnen und Ärzten zur Verfügung stehen, die Patientinnen und Patienten mit einer FH behandeln. Dass Menschen spät oder wie Aline Cretegny erst nach einem schweren Herzinfarkt von ihrer vererbten Krankheit erfahren, soll zukünftig nicht mehr oder zumindest viel seltener passieren.

*Name geändert

Die Schweizerische Herzstiftung fördert Forschungsprojekte, um Patientinnen und Patienten in Zukunft besser helfen zu können.
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