Ein junges Leben neu ausrichten

Mit 27 Jahren erleidet Nina Bruderer einen Hirnschlag. Sie musste früh im Leben lernen, mit den Folgen umzugehen. Wir alle sollten mehr über den Hirnschlag wissen, meint sie. Dies hilft Betroffenen, ein normales Leben führen zu können.

Aktualisiert am 29. Januar 2024
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Wenn Nina Bruderer von sich erzählt, kommt sie irgendwann auf den Schlag zu sprechen. Der Schlag, das tönt im ersten Moment befremdlich. Vielleicht ist es einfach eine bequeme Abkürzung für Hirnschlag oder Schlaganfall. Vielleicht aber ist es eine andere Betrachtungsweise: Mit 27 Jahren erlitt sie nicht nur ein dramatisches Ereignis und einen medizinischen Notfall, sondern es traf sie auch der Schlag.

Schwindel auf dem Campingplatz
Sie war kerngesund, unternehmungsfreudig und reiste mit der Studienfreundin wie jedes Jahr in die Ferien. Sie fuhren mit dem Wohnmobil in die Bretagne, an die Ufer des wilden Atlantiks. Der Aufenthalt sollte aber nicht lange dauern. Schon nach der Ankunft auf dem Campingplatz ging es ihr nicht gut.

Als sie etwas zu trinken holte und sich im engen Wagen bückte, verspürte sie einen heftigen Schmerz im Nackenbereich, als ob sich ein Nerv eingeklemmt hätte. Alles drehte sich im Kreis, ihr wurde schlecht, die junge Frau musste erbrechen. Weil sie am Nachmittag im Restaurant eine Galette mit Pilzen gegessen hatte, vermutete sie eine Lebensmittelvergiftung.

«Das geht schon wieder vorbei», sagte sie zu ihrer Freundin. Diese jedoch war besorgt und wollte zum Arzt. «Nein, ich gehe hier nicht zum Doktor», entgegnete Nina Bruderer. Die stoische Art, so sieht sie es heute, ist wohl auch eine Frage der Mentalität. Wegen sowas rennt man einfach nicht gleich in den Notfall. Punkt.

Es lag nicht an den Pilzen
Kopfschmerzen setzten ein, sie musste wieder erbrechen und wurde in der Dusche fast ohnmächtig. Am nächsten Morgen schliesslich brachen sie auf und fuhren zurück in die Schweiz. Es war der 1. Mai, ihre Cousine empfing sie nach einer zehnstündigen Fahrt an der Autobahnausfahrt bei Lenzburg.

Sofort brachte sie sie ins Kantonsspital Aarau. Die Pilzgeschichte verfing dort nicht, Nina Bruderer wurde gleich mit einem MRI untersucht. «Jetzt denk dir etwas Schönes aus», sagte sie sich in diesem lauten Gerät, in dem sie eine knappe Stunde ruhig liegenmusste, und sah das Meer vor sich, ritt mit dem Surfbrett auf dessen rauschenden Wogen. Danach ging alles wie der Blitz, sie wurde gleich ins Stroke Center, also in die Schlaganfallstation des Spitals, verlegt.

Für die spezifische Notfallbehandlung des Hirnschlags war es nach der langen Reise zu spät. Idealerweise sollte eine solche Behandlung so schnell wie möglich durchgeführt werden. Die besten Resultate erzielt die Hirnschlagmedizin in den ersten Stunden nach Beginn der Symptome. Kleinere Gerinnsel werden dann mittels einer Infusion, der Thrombolyse, aufgelöst. Gerinnsel in den grösseren Arterien entfernt man heute auch mechanisch mit einem Katheter. Diese Katheterbehandlung ist bei gewissen Hirnschlägen bis 24 Stunden noch möglich. Für Nina Bruderer hiess es hingegen: still liegen und warten.

Ängste überwinden
Die erste Nacht war die schlimmste. Nachdem sie pausenlos von Ärzten und Pflegepersonal umgeben war, trat im Zimmer, als der letzte Besucher nach Hause gegangen war, plötzlich eine bedrückende Stille ein. «Was bedeutet das für meine Zukunft?», fragte sie sich. Und: «Werde ich womöglich sterben?» Später in der Reha lernt sie, schwierige Momente anders anzugehen. Dazu nutzt sie das Reframing, eine Technik aus der Psychologie, welche hilft, eine Situation neu zu bewerten, indem man ihr einen anderen Rahmen gibt.

Noch heute lässt sie manchmal etwas fallen, weil die Motorik der einen Hand nicht ganz wie früher funktioniert. Statt sich über das Missgeschick zu enervieren, sagt sie sich mit einer grossen Portion Humor: «Du warst schon immer etwas ungeschickt. Jetzt ist es offiziell, die neuropsychologischen Tests haben es ja bestätigt.»

Schwieriger Umgang mit der Krankheit
Über zwei Monate verbrachte sie in der Rehaklinik Bellikon, jeder Tag vollgepackt mit Therapien und Tests. Schwindel, Gleichgewicht und Müdigkeit machten ihr zu schaffen. Die Feinmotorik war beeinträchtigt und auch leichte Schluckstörungen plagten sie. In solchen Momenten steht die Willenskraft auf dem Prüfstand. «Ich bin noch jung, ich will alles das wieder können, was ich früher konnte», sagte sie sich immer wieder. Statt in der Vergangenheit zu verharren, übernahm sie eine aktive Rolle und schaute positiv in die Zukunft.

Sie bekam Päckchen von Freunden geschickt, eine enorm wichtige Aufmerksamkeit im Reha-Alltag. Die Familie unterstützte sie, wo sie nur konnte. Ebenso ihr Arbeitgeber, bei dem sie nach der Reha rasch wieder zum Einsatz kam. Allerdings musste sie auch erfahren, dass wir in unserer Gesellschaft nur schwer mit Krankheiten umgehen können. Viele wissen nicht, wie sie darüber sprechen sollen.

Auch als Betroffene ist man verunsichert: Wann und wie soll man seine Erkrankung thematisieren? Wer muss es erfahren, wer nicht? Ausserdem ist der Wissensstand bezüglich des Hirnschlags tief, falsche Vorstellungen geistern herum. Oft wurde Nina Bruderer darauf angesprochen, dass man ihr gar nichts ansieht. «Zum Glück!», gab sie dann zur Antwort. Aber nur weil man nichts sieht, heisst es noch lange nicht, dass man nichts hat.

Sich Normalität wünschen
Heute, sechs Jahre nach dem Ereignis und nach einem berufsbegleitenden Masterstudium, arbeitet Nina Bruderer als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einer Fachhochschule. Daneben engagiert sie sich im neuen Betroffenenrat der Schweizerischen Herzstiftung. Im Gegensatz zu anderen Hirnschlagbetroffenen hat sie glücklicherweise weder kognitive noch sonstige Beeinträchtigungen und ist im Berufsalltag voll einsatzfähig. Einen Teil dieses Glücks will sie nun zurückgeben.

Die verbesserte Information über den Hirnschlag ist ihr besonders wichtig. Familienmitglieder und Arbeitgeber sollen mehr über die Krankheit und die Folgen für den Alltag erfahren. Betroffenen muss die Möglichkeit geboten werden, sich über Hindernisse, Unsicherheiten und Ängste auszutauschen. Und dann sagt sie etwas so Gewöhnliches wie Eindrückliches: «Als kranke oder beeinträchtigte Person wünscht man sich nichts anderes als ein normales Leben.» Es sei Aufgabe der Gesellschaft, den Betroffenen dieses normale Leben zu ermöglichen. Genau dafür setzt sie sich jetzt ein.

Mit der Unsicherheit leben
Könnte es wieder passieren? Grund für den Hirnschlag von Nina Bruderer war ein Einriss einer Halsarterie, die den hinteren Teil des Gehirns mit Blut versorgt. Bei einer solchen Gefässverletzung bilden sich Gerinnsel, welche die Hirngefässe verstopfen – eine häufige Ursache für einen Hirnschlag bei jungen Menschen. Weshalb sich die Arterienwand aufgespalten hat, kann trotz der zahlreichen Untersuchungen niemand sagen. Ein minimales Risiko bleibt. Doch wer in solchen Gedanken verharrt, versinkt irgendwann in einer Depression: «Wenn ich jeden Morgen aufstehe und denke, ich könnte sterben, was wäre das für ein Leben?» Nina Bruderer ist heute völlig gesund und blickt der Zukunft voller Energie entgegen.

Informieren Sie sich! Mehr zum Hirnschlag, zu den Warnzeichen und der richtigen Reaktion finden Sie auf unserer Seite www.hirnschlag.ch