20 Minuten ohne Herzschlag

Plötzlich stand das Herz von Markus Willi 20 Minuten lang still. Nach einem Konzertbesuch erlitt er im Bahnhof Oerlikon einen Herzstillstand und befand sich in grösster Gefahr. Nicht zum ersten Mal: Acht Jahre zuvor hatte er sich nach einem schweren Hirnschlag mutig ins Leben zurückgekämpft.

Aktualisiert am 29. August 2024
Markus und Monika Willi

Markus Willi schrieb seiner Frau Monika in einer SMS, dass er und ihre ältere Tochter Elena nächstens in den Zug nach Hause ein­steigen würden. Es war eine frostige Januarnacht im Jahr 2018. Beschwingt vom Jamiroquai-­Konzert im Zür­cher Hallenstadion, warteten beide auf einem Perron des Bahnhofs Oerlikon. Dann wurde es immer dunkler, wie wenn man den Dimmer einer Lampe herunter­schrauben würde. Er dachte sich, weshalb knipsen die im Bahnhof das Licht aus? Und von da an konnte er sich an nichts mehr erinnern.

Unterdessen spielten sich dramatische Szenen ab. Markus Willi sackte in sich zusammen, sein Herz stand still. Ein Arzt, der zufällig neben ihm stand, alarmierte den Notruf 144 und begann sofort mit der Wieder­belebung. Zwei Minuten später, noch vor der Sanität, trafen vier Polizisten der Stadtpolizei Zürich ein. Sie übernahmen zusammen mit einer Pflegefachfrau, die auch am Konzert war, die Herzmassage. Dabei mussten sie ihn mit Tüchern abschirmen, weil viele der An­wesenden – man nennt sie auch Gaffer – mit dem Handy zu filmen und fotografieren begannen.

Ein ex­terner Defibrillator wurde eingesetzt, ein Gerät, das mit einem Stromstoss das Herz wieder zum Schlagen brin­gen soll. Zwanzig Minuten lang pressten die Polizisten auf seinen Brustkorb und brachen Markus Willi dabei mehrere Rippen. Beim zweiten Stromschlag begann das Herz wieder zu pumpen. Die Ambulanz brachte ihn ins Universitätsspital Zürich, wo er mehrere Stents er­hielt. Die drei Herzkranzarterien waren verstopft und die fehlende Durchblutung hatte dazu geführt, dass sich im Herzen eine lebensbedrohliche Herzrhythmus­störung entwickelt hatte, was dann zum gefürchteten Herzstillstand führte.

Die Sommergrippe, die keine war
Seine Frau erhielt in der Nacht einen Anruf von der Poli­zei und dem Notarzt. Es war nicht das erste Mal, dass sie befürchten musste, ihren Ehemann vielleicht nicht wie­derzusehen. Achteinhalb Jahre zuvor, Markus Willi war 49 Jahre alt, fuhr sie mit ihm an einem Augustabend in der Ambulanz ins Kantonsspital Aarau. «Wir waren da­mals vielleicht naiv, aber wir vermuteten eine Sommer­grippe», erzählt Monika Willi. Als der Arzt in der Notfall­aufnahme sagte, es handle sich um einen schweren Hirnschlag und sie müsse damit rechnen, dass er die nächsten drei Tage nicht überlebe, antwortete sie unter Schock: «Das passt mir gar nicht, wir haben zwei kleine Kinder zu Hause!»

Angefangen hatte es am Morgen in einer Sitzung am Arbeitsort. Markus Willis Stimme begann plötzlich zu krächzen. Er fühlte sich immer unwohler, hatte Kopf­schmerzen, Schweissausbrüche und ihm war schwinde­lig. Deshalb verabschiedete er sich, um daheim zu schla­fen und schnell wieder zu genesen. Am frühen Abend fand ihn seine damals 11­jährige Tochter Céline auf dem Schlafzimmerboden, er konnte sich nicht bewegen, nicht mehr sprechen und musste erbrechen. «Ich war sport­lich, gesund und jung, wir dachten auch dann noch nicht an einen Hirnschlag», sagt Markus Willi.

Mit dem Wissen von heute hätten sie wohl ganz anders reagiert und manches Leid abwenden können. Markus Willi überlebte mit grossen Folgeschäden. Noch in der Stroke Unit des Kantonsspitals Aarau begannen die Therapien, unter anderem musste er wieder schlu­cken lernen. Eine Logopädin trainierte dies mit Wasser und Schokoladenpudding. Zunächst waren es nur ein paar wenige Tropfen, die erfolgreich durch den Hals herunterrutschten.

Später in der Rehabilitation in Rheinfelden holte er schrittweise wieder zurück, was er verloren hatte. Und das war viel: Er sah sehr schlecht, weil er die Koordination seiner Augen verloren hatte. Er sprach nicht richtig, weil seine Stimmbänder teilweise gelähmt waren. Ihm fehlte das Gleichgewicht. Er konn­te seinen Körper nicht ansteuern, nicht aufstehen oder gehen und verbrachte die ersten Wochen im Rollstuhl. «Ich hatte anfänglich sicher ein paar Tränen, aber ich bin ein optimistischer Mensch und wollte meine Fähigkeiten schrittweise wieder aufbauen», sagt er. Er setzte sich kleine Ziele, die er nie aus dem Auge verlor. Ein grosser Durchbruch kam, als ihm eine Physiotherapeu­tin seine Sportschuhe brachte und sagte: «So, Herr Willi, jetzt ziehen Sie diese an und laufen eine Strecke.» Er zog sie an, erhob sich vom Rollstuhl, rannte los und lief tatsächlich 50 Meter. Der Moment war so bewegend, dass ihn heute noch die Gefühle überkommen, wenn er davon erzählt.

Markus Willi Velo

«Ich schaue nicht zurück und traure nicht um Dinge, die nicht mehr möglich sind», sagt Markus Willi.

Wo ist sein Schutzengel?
Alles ging sehr langsam, insgesamt waren es mehr als 900 Therapieeinheiten über ein Jahr verteilt. Heute führt Markus Willi nach allen Strapazen ein Leben, das er selbst als sehr gut bezeichnet. Natürlich ist nicht alles wie früher. Natürlich musste er ge­schäftlich wie auch privat zahlreiche schwierige Konflikte überstehen. Aber eines hat ihn über alle harten Momente hinweggerettet. «Ich schaue nicht zurück und traure nicht um Dinge, die nicht mehr möglich sind. Mein Blick ist immer vorwärts­gerichtet», sagt er. Früher war er ein begeisterter Segelflugpilot. Das ist heute nicht mehr möglich. Stattdes­sen ist viel Neues dazugekommen. So hat er unter anderem gelernt, Schwy­zerörgeli zu spielen. Eine Prise Humor hat ebenfalls weitergeholfen. Monika und Markus begannen irgendwann, über die Missgeschicke und Schwie­rigkeiten zu lachen. Zum Beispiel, wenn nach der Ergo­therapie zu Hause wieder einmal sechs kaputte Tassen in der Spülmaschine lagen.

Ein Hirnschlag, ein Herzstillstand, beides war für Markus Willi undenkbar. Beides hat er mit viel Optimis­mus und Beharrlichkeit überstanden, aber auch mit grosser Hilfe seiner Familie und von aussen. Einmal pro Jahr feiern Markus und Monika Willi die beherzten Lebensretter aus Zürich und laden sie zu ihnen nach Hause zum Abendessen ein. Nur einer fehlt, der eigent­liche Schutzengel. Der unbekannte Arzt, der sofort mit der Herzdruckmassage begonnen hatte, war in den Wirren der Ereignisse nicht mehr aufgetaucht. Markus Willi konnte ihn auch später nicht wiederfinden. Bei ihm würde er sich noch gerne bedanken.